Montag, 23. Dezember 2019

"Die Frau nebenan" von Yewande Omotoso

Die beiden Protagonistinnen: selbstbewusste Frauen, ehrgeizig, künstlerisch veranlagt, erfolgreiche Geschäftsfrauen, beide jahrelang in unglücklichen Beziehungen. Beide geprägt von einem brutalen, ungerechten Gesellschaftssystem und Rassismus. Jede auf ihre Weise, denn sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Hortensia ist schwarz,  Marion weiß. Hautfarbe hat in beider Leben eine maßgebliche Rolle gespielt. Aber auf unterschiedlichen Seiten in der südafrikanischen Gesellschaft. Hortensia hat die Herabwürdigung, die Verachtung und Beleidigungen zu spüren bekommen, Marion hat sie arrogant und von oben herab ausgeteilt. Die eine hat den Kopf trotz der Ablehung und Ausgrenzung  hoch getragen, die andere hat sich vor der eigenen Verantwortung für Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeit geduckt. 

Nun ist das Leben über beide Frauen hinweg gegangen. Sie sind einsam, alt und verbittert. Nicht mehr zu ändernde Fehlentscheidungen und Unzulänglichkeiten ihres Lebens belasten ihre Seelen. Neid und Gehässigkeit richten sich gegen alles und jeden und treiben beide an, sich gegenseitig als Nachbarinnen das Leben schwer zu machen. Zeitgleich geraten sie in schwierige Lebenssituationen. Marion droht aufgrund der Schulden ihres verstorbenen Mannes ihren gesamten Besitz zu verlieren. Hortensia wird nach dem Tod ihres Mannes mit dessen skurrilem Testament konfrontiert, das unangenehme Wahrheiten zutage fördert und ihr viel abverlangt. Nach einem Sturz ist sie auf fremde Hilfe angewiesen. Marion überlegt derweil, wie sie ein wertvolles Gemälde vor den Gläubigern verstecken kann. Bei Hortensia? 

In dem Wissen, dass ihre Nachbarin Marion einst das Haus entworfen hat in dem Hortensia nun lebt, und in dem diese am Liebsten selbst wohnen möchte, gibt Hortensia umfangreiche Umbauarbeiten in Auftrag um die verhasste Nachbarin zu treffen. Ein angerückter Kran beschädigt versehentlich Marions Haus so stark, dass diese in ein herunter gekommenes Gästehaus umsiedeln muss.

In gehässiger Absicht überredet Hortensia ihre Nachbarin vorübergehend bei ihr einzuziehen, nachdem sie alle Pflegekräfte rausgeekelt und niemanden hat, der für sie sorgt. Aber auch Marion hat üble Hintergedanken, als sie schließlich zustimmt.

Beide versuchen sich gegenseitig das Leben so schwer wie möglich zu machen. Die bissigen Dialoge der alten Damen schwirren wie Pfeilspitzen hin und her. Aber die sich in böser Absicht gegenseitig an den Kopf geworfenen Bosheiten bringen auch Wahrheiten zu Tage, die lange verdrängt wurden. Entgegen dem eigentlichen Ansinnen nähern sich die beiden Frauen an. Erstmals sprechen sie über ihre tief empfundenen Enttäuschungen, über Versäumnisse, Verletzungen und Kränkungen, die sie nie überwunden haben. Nun wird deutlich, beide Frauen sind sich trotz aller Gegensätze ähnlich, sie beide tragen die Narben der gesellschaftlichen Spaltung und der gescheiterten Beziehungen in sich. Entwickelt sich da eine Freundschaft? Ganz sicher nicht im klassischen Sinne, aber für die beiden Frauen so viel Freundschaft, wie ihnen möglich ist.

Auf 263 Seiten erzählt Yewande Omotoso die Lebensgeschichte dieser Frauen, die jede auf ihre Weise in einem Unrechtssystem wirtschaftlich aufgestiegen und persönlich gescheitert sind. Sie entlarvt die Grausamkeit der von Diskriminierung und Rassentrennung geprägten Gesellschaft und schreibt über das Zusammenleben von schwarz und weiß früher und heute in Südafrika. Anschaulich, menschlich, ohne erhobenen Zeigefinger oder Aggression lernen die Leser viele Facetten eines Lebens mit Rassismus und Ungerechtigkeit und dessen Nachwirkungen kennen.Wer auf Friede, Freude, Eierkuchen am Ende hofft, der sieht sich getäuscht. Trotz niedrigschwelliger Annäherung bleiben beide Frauen sich treu, nämlich: bissig!



Montag, 7. Oktober 2019

Die Geschichte der Bienen- von Maja Lunde

Der Klimawandel ist in aller Munde. Dank Greta Thunberg mehr als je zuvor. Endzeitszenarien werden uns täglich in den Medien vor Augen geführt. Den Bildern von verhungernden Eisbären, verbrannten Urang-Utans und anderen leidenden, aussterbenden Kreaturen kann man kaum entkommen. Das Sterben der Bienen ist seit Jahren eine wiederkehrende Nachricht.

Wie aber wirken sich die Katastrophen auf jeden einzelnen aus?  Wie sieht unser tägliches Leben aus, wenn unsere Umwelt sich weiter verändert. Wie werden sich die Gesellschaften, die Arbeitswelt, die Familienverbände ändern?

Mit der Geschichte der Bienen ist auch die Geschichte der Menschheit verbunden. In 3 verschiedenen Zeitepochen schildert die Autorin das Leben mit, von und ohne Bienen. Der Leser bekommt Einblick in die fast industrielle Nutzung der Bienen für die Honigproduktion im 21. Jahrhundert und die Mühen des amerikanischen Imkers George, sich der industriellen von der Agraindustrie dominierten Ausbeutung der Natur zu unterwerfen und seinen Sohn davon zu überzeugen, den Familienbetrieb weiterzuführen.  Das mysteriöse Bienensterben bedroht seine Existenz. Im 19. Jahrhundert scheitert in England William als Forscher und verzweifelt an seinen vergeblichen Versuchen, seinem Mentor zu imponieren und dessen Anerkennung zu gewinnen. Eine großartige Erfindung, mit der Honig schonend und bienenfreundlich gewonnen werden kann, scheint die Wende zu bringen. Kurz vor dem Ende des 21. Jahrhunderts lebt Tao in China in einer Welt ohne Bienen. Mit den Bienen ist der Wohlstand verschwunden und die Nahrungsmittelversorgung auf der Welt kollabiert. Auf der Suche nach ihrem entführten Kind stößt Tao auf ein Wunder.

Als roter Faden ziehen sich durch alle Epochen die Folgen des menschlichen Handelns, das die Kultivierung und Ausbeutung der Natur bis zum Zusammenbruch vorantreibt. Die drei Erzählstränge, die jeweils das Wohl und Wehe der Protagonisten und ihrer Familien zeitgenössisch und auf verschiedenen Kontinenten darstellen, sind nicht nur spannende Menschen- und Zeitbilder sondern machen deutlich, dass es globale Zusammenhänge gibt und der Grundstock für die heutigen Umweltprobleme mit dem voranschreitenden Verlust der Biodiversität, bereits vor Jahrhunderten begonnen hat und noch immer anhält. Die Autorin zeichnet ein Bild unserer verarmten Welt, wie sie sich vielleicht in wenigen Jahrzehnten entwickeln wird.  Im Buch wird ein Bogen gespannt von 1852 über 2007 bis zum Jahr 2098.

Die Geschichten sind mitreißend und gut erzählt, mit den Charakteren kann man mitfühlen und ihre Nöte verstehen. Die Autorin schafft es einen kritischen Blick auf die unterschiedlichen Zeitebenen und das jeweilige menschliche Handeln und seine Folgen ohne erhobenen Zeigefinger zu werfen. Das Buch ist leicht zu lesen und bleibt stets spannend. Dennoch wirft es Fragen über unseren Umgang mit der Natur und die Verantwortung der Generationen füreinander und für die Zukunft auf.

Kurz: Leselust!


Montag, 5. August 2019

Gestorben wird anders- von Ebony Popiolek

Ein ungeliebter, vernachlässigter Ehemann, der eine Therapie abbricht, um nicht nur seine Frau sondern auch sein Leben zu verlassen. Eine attraktive FBI Agentin, die im Jagdfieber einem charmanten Serientäter verfällt. Eine Familie, die sich aus Eifersucht und Rache selbst auslöscht. Ein für seine gelähmte Frau treu sorgender Ehemann, der wegen eines Namens den Boden unter den Füßen verliert. Ein Bruder Kai, der zum Bruder Kain wird. Das Sterben und der Tod am Bett eines über 100-jährigen Naziverbrechers. Eine narzisstische Mutter, die lieber sterben als ihre Schuld anerkennen will.

Unterschiedlicher könnten die Protagonisten und Lebenswelten in den 7 Kurzgeschichten des Buches nicht sein. Und doch gelingt es der Autorin den Lesern die Gefühle und die gewundenen Gedankengänge jeder einzelnen Figur näher zu bringen. Ja, uns deren Denken und Handeln verstehen zu lassen.


Wortgewandt, eindringlich und doch mit erstaunlicher Leichtigkeit lässt uns Ebony Popiolek die Seelenschau der Akteure miterleben.

Ernsthaftigkeit, Tiefe, Lesegenuss und Kurzweil schließen sich hier nicht aus.

(Eigenverlag/ zu erwerben bei ➽ Amazon )

Donnerstag, 13. Juni 2019

Der Goldene Handschuh- Buch von Heinz Strunk/ Film von Fatih Akin

Der Titel des Buches und des gleichnamigen Films klingt nach einem Märchen. Prinz trifft Prinzessin, verliert seinen goldenen Handschuh und seine Angebetete aus den Augen. Der Handschuh bringt sie wieder zusammen. "Und wenn sie nicht gestorben sind ...."

Aber nein! Der "Goldene Handschuh" ist eine der übelsten Spelunken der Hamburger Reeperbahn. Hier treffen sich Kreaturen. die auf der untersten Stufe menschlicher Existenz angekommen sind. Nazi-Verbrecher, die sich noch immer an ihren vergangenen Untaten ergötzen, Gescheiterte, die nichts mehr haben: keine Liebe, keine Familie, keine Freunde, kein Zuhause, kein Mitleid. Alkoholiker, deren Gehirn und Körper von der Droge zerfressen sind. Trieb gesteuerte Sexsüchtige, die sich nur noch durch überbordende Gewalt ihren Kick holen können. Frauen, für die ein Schnaps und Missbrauch und Erniedrigung im Tausch für ein versifftestes Bett und ein Dach über dem Kopf die einzige Zuwendung ist, die sie noch erwarten dürfen.

Vor einigen Wochen habe ich den Film von Fatih Akin "Der Goldene Handschuh" (Link zum Trailer) gesehen und nun die Buchvorlage von Heinz Strunk gelesen. Ich konnte nicht fassen, dass es solch niedere Lebensformen und Existenzen in Deutschland wirklich geben kann. Und doch: den Goldenen Handschuh und den ihn umgebenden Kosmos und seine Bewohner gibt es tatsächlich. Noch heute. Und die Hauptfigur Fritz Honka ist ein leibhaftiger Serienmörder, der in den 70er Jahren in Hamburg sein Unwesen trieb und in eben diesem Goldenen Handschuh seine Opfer fand.

Die unglaubliche Verkommenheit der Szenerie, die explosionsartigen Gewaltausbrüche, die tiefste Stufe menschlicher Erniedrigung und Gleichgültigkeit werden im Film ungeschönt in Wort und Bild gezeigt. Fast sind die Dialoge und die Geräusche schwerer zu ertragen als die grausamen Bilder. Die äußerliche und innerliche Verwahrlosung, die überbordende physische, sprachliche und seelische Gewalt verursachen Ekel und Fassungslosigkeit. Die Szenen gehen an die Grenze des Erträglichen, selbst für Hartgesottene.

Während der Film durch Wort und Bild geradezu körperlich einwirkt, bringt das Buch mit seiner lakonischen, protokollierenden Erzählweise das Denken und die Vorstellungskraft an die Grenze des Fassbaren. Die Szenen der Kneipenbegegnungen, die Leere der Beziehungen zwischen den Akteuren, das völlige Fehlen jeglichen Mitgefühls hinterlassen den Leser einen rat- und hilflos.

Im Film steht der Absturz des Mörders Fritz Honka, seine Getriebenheit, im Vordergrund.

Im Buch führt uns Heinz Strunk vor Augen, dass diese abgrundtiefe Verderbtheit nicht nur in den untersten Schichten zu Hause ist, sondern auch in den besseren Kreisen. Wir lernen hier Männer dreier Generationen einer Reederfamilie kennen, bei denen unter der bürgerlichen Fassade Vereinsamung, Komplexe, Gier, moralische Verwahrlosung, Gewalt- und Machtphantasien ebenso die Abkehr von gesellschaftlichen Normen zur Folge hat. Im Goldenen Handschuh treffen sie aufeinander: die reichen und die armen Seelenkrüppel. Hier findet sich der Nährboden, den man braucht um sich restlos gehen zu lassen, um jede Grenzen zu überschreiten, um hilflose Opfer zu finden.

Fatih Akin und Heinz Strunk haben den Bodensatz dieses Jauchepfuhls unter die Lupe genommen und beleuchtet. Nichts beschönigt, nichts ausgelassen.

Als ich den Film sah bewegte mich vor allem die Frage: wie hat Akin Schauspielerinnen gefunden, die bereit waren eine so hässliche und vor allem eine so frauenfeindliche und erniedrigende Rolle zu übernehmen? Für mich waren diese missbrauchten, entwürdigten Frauengestalten schwerer zu ertragen, als die Mordszenen.

Das Buch mit seiner Intensität hat mich eher fragen lassen: darf man solche Lebensformen als Gesellschaft dulden? Muss man diese kranken, armen Kreaturen nicht vor sich selbst schützen? Darf man eine Subkultur zulassen, in der Gewalt, Körperverletzung und Ehrverletzung und der Verlust der Menschenwürde auf der Tagesordnung stehen?

Diese Fragen sind es meines Erachtens, die dem Film wie dem Buch seine Berechtigung geben. Denn beide klären in einer Weise und Tiefe über diese gesellschaftlichen Randerscheinungen auf, wie ich es noch nie erfahren habe.

Ist dieses also eine Buch-/ Filmempfehlung? JEIN. Zu brutal, zu abartig um empfohlen zu werden. Aber nervenstarke und neugierige Menschen können hier eine Welt kennen lernen, wie sie uns allgemein verborgen und unvorstellbar ist. Immerhin: im Kino hat lediglich ein Pärchen nach den ersten Szenen den Kinosaal verlassen. Alle anderen blieben wie angewurzelt auf ihren Sitzen.






Freitag, 5. April 2019

Wo wir zu Hause sind- Die Geschichte meiner verschwunden Familie


Maxim Leo, ein in  Ostberlin geborener und aufgewachsener Journalist, begibt sich auf die Suche nach der Vergangenheit seiner jüdischen Familie, die dem Nationalsozialismus geschuldet, in alle Winde verstreut ist. Ganz unterschiedlich verliefen die Bemühungen sich im Ausland in Sicherheit zu bringen und jeder hatte seine eigenen Strategien und Lebensentwürfe. Ein Onkel kommt als Kind nach England, eine Tante lebt in Israel, eine andere in Österreich und eine nächste in den USA. Ihre Lebensgeschichten erforscht Leo in Interviews mit den noch lebenden Verwandten und deren Nachkommen. Er begibt sich auf die Reise zu seinen Verwandten in der Ferne. Vor allem die Sehnsucht nach einer großen Familie ist seine Triebfeder.
Er stellt fest, dass die Generation der direkt Verfolgten sich verschlossen hat, sich gegen die alte Heimat gewendet, sich in der neuen Heimat etabliert und Mauern um die Erlebnisse der Vergangenheit errichtet hat. Aber die Nachfolgegenerationen spüren die Verbindung zur alten Heimat und zur Familie, die sie nie kennengelernt haben. Sie sind aufgeschlossen, unvoreingenommen und neugierig. Ihre Identität finden sie sowohl in der Vergangenheit als auch in ihrer Gegenwart. Selbst die Alten beginnen sich in diesem Wiederfindungsprozess zu öffnen und ihre Situation zu reflektieren. Es kommt zu Begegnungen und Erkenntnissen, die nicht nur zeigen, wie das Leben fern der ursprünglichen Heimat sich auf die kulturelle und persönliche Entwicklung auswirkt sondern auch, dass eine familiäre Bindung, eine unabdingbare, innere Nähe zu den Angehörigen der Familie in jedem steckt.
Dieses Buch hat zu mir in einer Zeit gefunden, in der ich mich intensiv auf die Suche nach meinem jüdischen Großvater gemacht habe und jetzt weiß, dass er mit seiner Familie nach Argentinien ausgewandert ist. Viele Fragen, die sich mir stellen, wie fühlt man sich, wenn man gezwungen wird die Heimat zu verlassen? Kann man im neuen Heimatland wirklich ankommen, kann es ein Ersatz für die Heimat sein? Wie geht man mit Demütigung und Erniedrigung um? Kann man der alten Heimat verzeihen, was sie einem angetan hat? Wie „deutsch“ bleibt man auch unbewusst in einem neuen Leben? Wie wirken die Verwerfungen im Lebenslauf auf die nachfolgenden Generationen? Für all diese Fragen bieten die Lebensgeschichten der Familie Leo mögliche Antworten. Wir erfahren etwas vom „american dream“, dem „very british way of life“, über das Leben im Kibbuz bis hin zur Boheme der 30er Jahre in Paris. Das Buch ist nicht nur ein Familienroman, es ist auch ein Psychogramm von Entwurzelung und Neuanfang, von Demütigung und Verzeihung, vom Hinfallen und Aufstehen. Und es ist politisch. Denn in allen Ländern, in die die Angehörigen geflüchtet sind, macht sich der Rechtsruck bemerkbar, blüht der Nationalismus auf. Ob Brexit, Nethanjahus Siedlungspolitik, Trumps Abschottungspolitik oder die rechts-konservative Regierung in Österreich. Über 70 Jahre nach Kriegsende, nach Jahren der Entspannung und des Aufeinanderzugehens, greifen wieder Unversöhnlichkeit, Kompromisslosigkeit, Ausgrenzung und Abschottung um sich.
Das Interesse an Familie, das Miteinander und die Verbundenheit über Grenzen und Ozeane hinweg und das Verständnis dafür, dass wir nicht nur eine Heimat haben, kann vielleicht im Kleinen dazu beitragen, dass wir uns an Vielfalt freuen und neugierig bleiben.
Das Buch ist letztlich auch ein Plädoyer für Familienforschung. Nicht erst dann Fragen zu stellen, wenn nicht mehr geantwortet werden kann. Ich wünschte, dieses Bewusstsein wäre eher bei mir angekommen. Dann müsste ich heute nicht so mühsam Puzzleteilchen suchen und damit leben, dass einige Flächen leer bleiben werden .

Mittwoch, 23. Januar 2019

Carlos Ruiz Zafon- Der dunkle Wächter

Der Schatten des Windes, Das Spiel des Engels- zwei Romane des Autors, die ich verschlungen und geliebt habe. Sprachlich eine Wonne und spannend bis zum letzten Wort. Immer geheimnisvoll und manchmal ein bisschen unwirklich.

Als ich auf den o.g. Titel stieß, war ich erstaunt auf dem Backcover zu lesen: "Herrlicher Schauerroman". 

Tatsächlich wird hier hier vom Autor eine Geschichte entwickelt, deren Rezept lauten könnte: man nehme viel von der Fähigkeit eines Zafon, die Charaktere liebevoll zu zeichnen und die Leser atmosphärisch einzuwickeln, gebe ein wenig von der urfaustschen Idee, ein wenig Daphne du Maurier, einen Schuss Edgar Allen Poe und eine Prise Liebesgeschichte a la Rosamunde Pilcher dazu, mische kräftig und bringe es langsam zum Kochen.

Zafon entführt uns in die 30er Jahre an die französische Atlantikküste in ein verschlafenes Fischernest nahe dem Mont Saint Michel. Die Mutter zweier Kinder, deren Ehemann und Vater verstorben ist und sie mittellos zurückließ, bekommt die Chance ihrer Armut in Paris zu entfliehen und für einen Spielzeugfabrikanten zu arbeiten, der nahe dem Dorf in einem unheimlichen Herrenhaus wohnt. Schon bald bekommt die Idylle Risse: eine alte, unheimliche Geschichte um den verlassenen Leuchtturm und das Herrenhaus kommt langsam zu Tage.  Die kleine Familie wie auch der charmante Hausherr geraten in einen gefährlichen Strudel von Hass, Rache und Zerstörung als ein alter Fluch zurückkehrt und seinen Tribut fordert. Hausherr, Mutter und Kinder müssen verzweifelt um ihr Leben kämpfen 

Es ist sicher 30 oder gar 40 Jahre her, dass ich Schauergeschichten von Poe und anderen geliebt und verschlungen habe. Heute sind es eher realitätsnahe Kriminalromane oder ergreifende menschliche Schicksale und Familiengeschichten, die mich erschauern lassen. So war es etwas schwierig, mich auf das Phantastische und Unrealistische in diesem Roman einzulassen. Es ist mir auch nicht ganz gelungen. Dennoch kann ich nach der Lektüre konstatieren: ein gutes Buch.  Vor allem für diejenigen, die Phantasy und Fiction mögen. 

Montag, 21. Januar 2019

Freya von Moltke- Ein Jahrhundertleben 1911-2010

In dieser Biographie lernt man nicht nur Freya von Moltke kennen, sondern eine Reihe von bekannten Persönlichkeiten, mit denen Freya und ihr Mann, der Widerstandskämpfer Helmuth James von Moltke bekannt waren. 

Nahezu ein ganzes Jahrhundert hat Freya durchlebt. Sie hat die Schrecken zweier Kriege, Flucht und größte wirtschaftliche Not durchgestanden und ihrem Mann durch die Zeit seiner Haft, die Verzweiflung, die Hoffnung  und die Hoffnungslosigkeit bis zu seiner Hinrichtung beigestanden. Sie hat in Deutschland, Südafrika und den USA gelebt, Nationalsozialismus, Apartheid und Rassendiskriminierung miterlebt. Und nach dem Krieg das schnelle Geschichtsvergessen in Deutschland.

Mit nahezu unmenschlicher Stärke hat sie alle Gefühlsqualen, jede Gefahr, jede Notlage und menschlichen Tragödien durchgestanden. Ausgestattet mit außerordentlicher Liebesfähigkeit, grenzenloser Treue, Verbundenheit und Pflichtgefühl. Eine starke Frau, bewundernswert und vorbildlich. Und doch hat sich mir immer wieder die Frage gestellt: was hätte aus ihr werden können, wenn sie sich nicht so ausnahmslos in den Schatten ihrer Männer gestellt hätte? Wo ist sie selbst, ihr Eigenes, ihr Werk zu finden? Was wäre ihr eigenes Ziel gewesen? Ein wenig schäme ich mich dafür, diese mutige Frau, die so viel Stärke und Größe bewiesen hat, nicht uneingeschränkt bewundern zu können. Mein von der heutigen Zeit geprägtes Verständnis von Emanzipation und Selbstverwirklichung steht mir da wohl im Wege. Vielleicht wurde aber auch von der Biografin das Individuum Freya nicht genügend herausgearbeitet. Vielleicht hatte Freya mehr eigenen Willen, mehr eigene Vorstellungen und Ziele, als in dem Buch dargestellt wird.

Als Kind eines Bankiers und einer adeligen wächst Freya Deichmann behütet im Wohlstand auf. So recht weiß sie nichts mit sich anzufangen, hat keine Vorstellung von dem, was sie einmal im Leben werden möchte und lässt sich eher von den Umständen leiten. Eine Hauswirtschaftsschule besucht sie wohl eher in Ermangelung einer besseren Idee. Immerhin merkt sie, dass das Lernen ihr leicht fällt und Freude bereitet. So bereitet sie sich privat auf die Abiturprüfung vor, die sie mit guten Noten besteht. 1929 mit 18 lernt sie Helmuth von Moltke kennen und verliebt sich in ihn. Fortan ist er ihr Lebensinhalt und -elexier. Den politisch engagierten intellektuellen Jurastudent trifft sie so häufig wie möglich und nimmt schließlich selbst ein Jurastudium auf. Zeitweilig studieren beide gemeinsam in Berlin. Aber Helmuth versucht auch den 400 km von Berlin entfernten elterlichen Gutshof in Kreisau/ Schlesien, der in wirtschaftlich schwierigen Problemen steckt, zu konsolidieren. Das Paar ist häufig getrennt bleibt aber eng verbunden.

Auch nach der Hochzeit 1931 ist das Paar aufgrund Helmuth von Moltkes beruflicher Beanspruchung, seiner Reisen auch ins Ausland und später der zunehmenden Aktivitäten im Widerstand immer wieder auch für längere Zeit getrennt. Freya übernimmt die Rolle der Gutsherrin Obwohl großbürgerlich in der Stadt aufgewachsen, findet sie Gefallen am arbeitsreichen, ländlichen Leben. Sie setzt zwar ihr Studium fort und promoviert, aber trotz der guten Ausbildung richtet sie ihr ganzes Leben und Streben an Helmuth aus und verzichtet auf eine eigene berufliche Tätigkeit. In den folgenden Jahren von 1935 bis zur Verhaftung ihres Mannes und schließlich der Flucht 1945 führt Freya den Gutsbetrieb, den Haushalt und bekommt 2 Söhne. Sie unterstützt Helmuth stets bei seinen zunehmenden Aktivitäten in der Widerstandsbewegung und hält ihm den Rücken frei.

Während des Gefängnisaufenthaltes erlebt das Ehepaar zum ersten Mal eine große Nähe. Freya hält sich so viel wie möglich in Berlin auf. Besucht ihren Mann so oft es ihr erlaubt wird, fährt in die Haftanstalt um Wäsche zu tauschen, Nahrungsmittel abzugeben und einfach nur in seiner Nähe zu sein. Es gelingt dem Paar täglich Briefe auszutauschen, die der Freund und Gefängnispastor Poelchau hinein- und hinausschmuggelt. In diesen Briefen geben sich die beiden gegenseitig Stärke und vertiefen ihre Liebe und ihren christlichen Glauben um die kommende Trennung und Hinrichtung, von deren Unabdingbarkeit beide überzeugt sind, zu verkraften. Freya lebt nur noch für diese Beziehung. Es scheint, dass ihr nun zum ersten Mal wirkliche Beachtung durch ihren Mann zuteil wird.

Nach Helmuth von Molkes Hinrichtung im Januar 1945 nehmen die Sorge um Gut Kreisau und am Ende Flucht und Überleben in den Kriegswirren Freya voll und ganz in Anspruch. Einige Jahre lebt sie mit den Söhnen in Südafrika. Nach der langsamen Konsolidierung wird es Freyas vornehmliche Aufgabe, das Andenken ihres Mannes und den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Erinnerung zu halten. Die vom Kreisauer Kreis niedergeschriebenen Ideen für ein soziales und demokratisches Deutschland nach dem Krieg sollen nicht untergehen. Jetzt zeigt sich was in Freya steckt, sie unternimmt Vortragsreisen, transkribiert die Briefe aus der Gefangenschaft, knüpft Kontakte, engagiert sich für die Organisation Cripple Care. Sie tritt aus dem Schatten ihres Mannes und der Familie.

Bis sie schließlich 1956 in Berlin den charismatischen, intellektuellen früheren Lehrer ihres Mannes, den verheirateten und 23 Jahre älteren Wissenschaftler Eugen Rosenstein, wieder trifft und sich Knall auf Fall verliebt. Und wieder wird sie zur starken Frau im Schatten eines großen Mannes. Nach einer emotionalen und aufreibenden Dreiecksbeziehung stirbt die Ehefrau Rosenzweigs 1959 und ein Jahr später bezieht Freya die Rosensteinsche Villa in Harwich/ USA. Das Andenken an ihren ersten Mann hält sie weiter hoch und unterstützt entsprechende Buchprojekte.

Nach dem Tode Rosenstocks wird sie wieder öffentlich aktiv. Nun hat sie das Erbe zweier "querliegender" Männer (wie sie es nennt) zu verwalten. Der Eugen Rosenstock-Huessy Fund und das Norwich Center  werden neu gegründet. Sie engagiert sich in einer Verbraucher Genossenschaft, veröffentlicht die Briefe aus der Gefangenschaft erstmalig und besucht zum ersten Mal seit Kriegsende Kreisau. Sie setzt sich für die deutsch-polnische Aussöhnung und den Erhalt des Gutes und die Schaffung eine internationale Begegnungsstätte ein. 1998 ist es so weit: die Begegnungsstätte wird im Beisein von Freya durch Helmut Kohl und den polnischen Ministerpräsidenten Jerzy Buzek eingeweiht. Nach einem bewegten und engagierten Leben stirbt Freya 2010 mit 99 Jahren.