Samstag, 4. März 2017

A little life/ Ein bisschen Leben von Hanya Yanagihara

Wer sich nicht vor dicken Buechern fuerchtet, seine Nervenstärke austesten möchte und sprachliche Gewandtheit (hoffentlich auch in der deutschen Uebersetzung, ich habe das englische Original gelesen) liebt, der sollte dieses Buch der Newcomerin Hanya Yanagihara nicht verpassen. Auf immerhin 720 Seiten jagt uns die Autorin durch das "bisschen Leben", dass so viele Tiefen, so viele Wendungen und so ein furioses Ende hat, dass man sich am Ende selbst fuehlt, als sei ein viel zu kurzes Leben zu Ende gegangen. Trotz des grossen Leseumfanges hielt ich das Buch nach dem Durchlesen in der Hand und fuehlte eine Leere, wie selten in solch einem Moment. Nach kurzem Ueberlegen fing ich von vorne an zu lesen. Das konnte doch nicht alles einfach so vorbei sein!

Ich werde in meiner Besprechung nicht all zu viel von den Inhalten verraten, um die unglaublichen und mitreissenden Ereignisse nicht vorwegzunehmen. Ich rate auf jeden Fall davon ab, die ueblichen Rezensionen vorab zu lesen. Darin wird leider sehr viel verraten, was dem Buch einen Teil der Spannung nimmt.

Es beginnt wie ein amerikanischer Traum: vier Collegefreunde, alle ungewoehnlich talentiert, gut aussehend, zum Teil mit reichem Elternhaus, versuchen nach dem Studium in ihren Berufen Fuss zu fassen. Der charmante, blendend aussehende Frauenschwarm Willem als Schauspieler, der verträumte Malcolm aus reichem Elternhaus (der einzige der vier, der noch zu Hause wohnt) als Architekt, der unterhaltsame, geistreiche J.B. als Maler und schliesslich Jude, aufopferungsvoller, liebender Freund und hochbegabt als Jurist. Er ist als Waisenjunge im Kloster und im Heim aufgewachsen, hat eine leichte Gehbehinderung und ist von den Vieren der sensibelste. Die Vier sind lebenslang unzertrennbar, geben aufeinander Acht. Jude ist der charismatische Mittelpunkt des Quartetts.

Aber mit jedem Kapitel bekommt der Traum mehr Risse. Es sind nicht die Äusserlichkeiten, sondern die Gefuehle, die Ängste, die Zweifel, die an dem schönen Leben nagen. Vor allem Judes Lebens- und Leidensgeschichte wird Schicht um Schicht frei gelegt und schockiert mit ihrer Heftigkeit. Mit Wucht und ohne Ruecksichtnahme lässt uns die Autorin in Abgruende blicken, lässt uns Schmerz und Verzweiflung miterleben. Man wird von dem Strudel mitgerissen und kann nicht aufhören zu lesen. Manchmal ist das Weiterlesen selbst eine Art Folter. Auch fuer die Freundschaft der Vier wird Judes Ringen mit den Geistern der Vergangenheit zur Zerreissprobe.

Wer sehr zart besaitet ist, wird die Geschichte schwer ertragen können. Noch nie habe ich die Gefuehle, die verdrehte Wahrnehmung, die fern ab von der Realität im tiefsten Inneren gezogenen Schluesse einer verletzten Seele so intensiv mitfuehlen können. Yanagihara versteht es meisterhaft Zweifel, Selbstverachtung, Versagensängste und tiefste Verzweiflung zu beschreiben. 

Aber wir erleben auch tiefe Freundschaft, wahre Liebe und menschliche Guete. Wir können eine wunderbare Liebesgeschichte miterleben. Zwei Menschen, die sich zutiefst vertrauen und lieben, ueber alle Konventionen hinweg. Kann diese Liebe Heilung fuer Judes tief verborgene Verletzungen bringen?
Ich werde es nicht verraten. Und empfehle es selbst herauszufinden.

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