Mittwoch, 20. Oktober 2021

Alle, außer mir von Francesca Melandri


Ich bin politisch interessiert und auch recht gut informiert (dachte ich). Ich schaue Nachrichten, lese Zeitung, sehe mir Reportagen an, lese über Land und Leute, Interessiere mich für Geschichte, Anthropologie und vieles mehr.

Nachdem ich den Roman "Alle, außer mir" von Francesca Melandra gelesen habe, muss ich mein Eigenbild beschämt revidieren. Ich weiß nicht genug und vor allem: das Wissen um manche Misstände ist nicht so unter die Haut gegangen, dass ich auch nur ansatzweise hätte nachempfinden können, in welcher Lebensrealität Betroffene, Täter oder Opfer, in der Wirklichkeit leben mussten und müssen.

Hiermit hat die Autorin mit Ihrem Buch über Kolonialismus, Faschismus und Rassismus gehörig aufgeräumt.

Attilio Profeti war ein Adonis, der Stolz seiner Mutter, bei den Frauen beliebt, ein Glückspilz. Im Italien der 30er Jahre tritt er als glühender Nationalist in die Armee ein und wird zu einem der gefürchteten  Schwarzhemden unter der faschistischen Führung des Duce. Er ist Bigamist  und sieht nun, knapp hundertjährig seinem Ende entgegen, von dem er schon als Junge überzeugt war es nicht erleben zu müssen, denn alle müssen sterben "alle, außer mir." Wir schreiben das Jahr 2010 in Italien regiert Silvio Berlusconi, mit nationalistischen Sprüchen und Bunga-Bunga Skandalen, die nicht an ihm haften bleiben und ihn keinesfalls politisch aus der Bahn werfen.

Vor der Tür von Attalios Tochter steht eines Tages ein junger Afrikaner, der behauptet der Enkel Attilios zu sein. Dieser habe während seines Aufenhaltes in Äthiopien mit einer Einheimischen ein Kind gezeugt, dessen Sohn er sei. Als Beweis zeigt er einen äthiopischen Pass, der ihn als Shimeto Ietmgeta Attilaprofeti ausweist. Als "illegaler" Flüchtling ist er über Lybien ins Land gekommen. Seine Geschichte ist die der Millionen Verzweifelten, die sich auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Tod in größte Gefahr mit ungewissem Ausgang begeben. Die auf dieser Flucht erlebten Erniedrigungen, die Internierung in Gefangenenlagern, in denen die hygienischen und Ernährungsbedingungen einem Todesurteil gleich kommen, hat er in einer jahrelangen Odyssee überstanden und möchte nun endlich in seiner Familie ankommen.

Zwischen Hoffen und Bangen begibt sich Ilaria auf die Suche nach Hinweisen, ob der Fremde recht haben könnte, denn der Vater ist dement und kann nicht befragt werden. Auf Ihrer Suche kommt sie Familiengeheimnissen auf die Spur, die ihr den Atem rauben und den Boden unter den Füßen wegziehen. Ihr Vater war tatsächlich in Äthiopien, hat im Krieg gegen das afrikanische Land gekämpft und an entsetzlichen Greueltaten gegen die Zivilbevölkerung  mitgewirkt. Er hat unbeschreibliche Schuld auf sich geladen und mit der Überzeugung eines Rassisten schlimmste Vergehen gegen die Menschlichkeit begangen. All das hat ihn und seinesgleichen nicht davon abgehalten, sich mit schwarzen Frauen zu vergnügen und sich eine Mätresse zu halten.

Nach dem Krieg ist er in seinen sicheren Hafen in Italien und den Schoß seiner Familie zurückgekehrt, als wäre nichts gewesen.

Der italienische Buchtitel lautet: Sangue giusto - richtiges Blut. Und das ist die Kernfrage, der Melandri in dieser Biographie eines italienischen Veteranen, ja einer Biografie Italiens, nachgeht. Wer gibt Menschen das Recht, sich über andere zu erheben? Wie kann man Unterdrückung und Gewalt im Namen rassischer Überhöhung rechtfertigen? Und steht die Frage des nicht richtigen Blutes gar bei der Ablehnung von Flüchtlingen,  deren Einkerkerung in elenden Lagern und ihrer Abschiebung zurück in die Hölle, der sie entkommen sind, noch immer im Raume? Wer oder was gibt uns reichen Ländern das Recht, Menschen, deren Heimat durch Kolonialmächte ausgebeutet wurden, deren Haus und Hof mit Waffen zerstört werden, die wir verkauft haben, und von Kriegen, die wir anzetteln und befeuern. Die Krankheit und Tod ausgeliefert sind, weil wir unsere Medikamente unsere Impfmittel nicht zur Verfügung stellen.

Am Ende ist man als Leser dieses Buches genauso fassungslos wie Attilios Tochter. Wieso hat man trotz endloser Informationsflut das nicht gewusst? 


Dienstag, 15. Juni 2021

Der weiße Ovambo von Nils Ole Oermann

 


Auf das Buch „Der weiße Ovambo“ wurde ich im Rahmen meiner Ahnenforschung aufmerksam, denn Peter Pauly, die Hauptperson des Buches, wurde in Breslau in der Straße geboren, in der mein Vater als damals 6jähriger aufwuchs.

Auf nur 228 Seiten wird von wesentlichen Ereignissen des langen und ungewöhnlichen Lebens von Peter Pauly berichtet. Mit Humor und ohne Verbissenheit oder erhobenen Zeigefinger erfährt man vom privilegierten Aufwachsen und Lausbubendasein, das ein plötzliches Ende findet, als die Rassengesetze der Nationalsozialisten die evangelische Familie zu jüdischen Mischlingen deklariert und damit der Verfolgung aussetzt. Die angestrebte akademische Karriere an dem inzwischen zur Napola umgewidmeten Internat musste ins Wasser fallen.

Über ein unvermutetes Angebot in Afrika eine Kaffeeplantage zu beaufsichtigen begann die lebenslange Liebe zum afrikanischen Kontinent und seinen Menschen. Wenngleich Peter Pauly, wie alle Weißen, ein privilegiertes Leben in herausgehobener Stellung hätte führen können, empfand er das Unrecht der Apartheid und die schlechte Behandlung der Schwarzen beschämend. In vielen brenzligen Situationen stellte er sich mutig auf die Seite der Verfolgten und Benachteiligten. Seine Sorge galt der Verbesserung der Lebensbedingungen der Einheimischen. Seine Liebe zu den fröhlichen und trotz aller Sorgen und Nöte zuversichtlichen Einheimischen wurde zur lebenslangen Bindung an seine neue Heimat. In fortgeschrittenem Alter heiratete er in politisch schwierigen Zeiten eine schwarze Pastorin und wurde in deren Stamm aufgenommen. Schließlich anvancierte er sogar zum Stammesältesten und hatte für Groß und Klein, Alt und Jung im großen Stammesverband Sorge zu tragen.

Das Buch ist keine gesellschaftspolitische oder sozialkritische Abrechnung mit der Unterdrückung und dem Unrechtssystem im südlichen Afrika. Viel mehr ist es eine Hommage an Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, Empathie und Zivilcourage. Und die bewundernswerte Resilienz eines mittlerweile 104jährigen Mannes, der in all seinen Höhen und Tiefen nie den tiefen Glauben an die Menschen oder gar seinen Humor verloren hat. Der Autor hat in seinen Interviews dem alten Herrn offensichtlich so aufmerksam gelauscht, dass man das Gefühl hat, dieser  erzähle einem persönlich seine Lebensgeschichte.

Die innere Haltung und Selbstreflexion dieses außergewöhnlichen Menschen wird bei seiner üblichen Antwort auf die Frage, wie es ihm gehe, auf einfache Weise deutlich: stets ein munteres

„Danke. Unverdient gut.“

Dienstag, 31. März 2020

Unorthodox

Die Corona Pandemie und die Kontaktsperre, geschlossene Theater, Kinos, Museen, Restaurants und Kneipen verändern das Leben so grundsätzlich, dass jeder von uns auch den eigenen Tagesablauf und seine Aktivitäten anpasst.

Nun auch hier einmal etwas anderes: keine Literaturempfehlung sondern eine Filmempfehlung! Die  4teilige Netflix Miniserie "Unorthdox" ist so ungewöhnlich, so informativ und mitreißend, dass ich hier allen, die die Möglichkeit haben Netflix zu schauen, dringend anraten möchte diese Folgen anzuschauen.

2017 war ich zum ersten Mal in New York/ Williamsburg und war überrascht die männlichen jüdischen Einwohner dort nicht nur in den bekannten schwarzen Mänteln und Hüten zu sehen, sondern in einer Tracht, die mir bis dahin völlig unbekannt war: auf dem Kopf riesige kreisrunde Fellhüte; schwarze, seidig glänzende, wadenlange, morgenmantelartige Roben, mit einem Stoffgürtel gebunden; darunter weiße Strümpfe und zierliche Slipper. Die Frauen in altmodischen langen Röcken, mit Perücke und/oder Kopftuch, die Kinder ebenfalls in altmodisch anmutender Kleidung und die Mädchen mit einer dicken Schleife auf dem Kopf. Obwohl es Samstag war, blieben die Straßen wie leer gefegt und nur wenige Familien bewegten sich langsam durch die Straßen, als würden sie an einem Faden gezogen. Google brachte Aufklärung darüber, dass es sich hier um orthodoxe chassidische Juden handelt.

Montag, 23. Dezember 2019

"Die Frau nebenan" von Yewande Omotoso

Die beiden Protagonistinnen: selbstbewusste Frauen, ehrgeizig, künstlerisch veranlagt, erfolgreiche Geschäftsfrauen, beide jahrelang in unglücklichen Beziehungen. Beide geprägt von einem brutalen, ungerechten Gesellschaftssystem und Rassismus. Jede auf ihre Weise, denn sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Hortensia ist schwarz,  Marion weiß. Hautfarbe hat in beider Leben eine maßgebliche Rolle gespielt. Aber auf unterschiedlichen Seiten in der südafrikanischen Gesellschaft. Hortensia hat die Herabwürdigung, die Verachtung und Beleidigungen zu spüren bekommen, Marion hat sie arrogant und von oben herab ausgeteilt. Die eine hat den Kopf trotz der Ablehung und Ausgrenzung  hoch getragen, die andere hat sich vor der eigenen Verantwortung für Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeit geduckt. 

Nun ist das Leben über beide Frauen hinweg gegangen. Sie sind einsam, alt und verbittert. Nicht mehr zu ändernde Fehlentscheidungen und Unzulänglichkeiten ihres Lebens belasten ihre Seelen. Neid und Gehässigkeit richten sich gegen alles und jeden und treiben beide an, sich gegenseitig als Nachbarinnen das Leben schwer zu machen. Zeitgleich geraten sie in schwierige Lebenssituationen. Marion droht aufgrund der Schulden ihres verstorbenen Mannes ihren gesamten Besitz zu verlieren. Hortensia wird nach dem Tod ihres Mannes mit dessen skurrilem Testament konfrontiert, das unangenehme Wahrheiten zutage fördert und ihr viel abverlangt. Nach einem Sturz ist sie auf fremde Hilfe angewiesen. Marion überlegt derweil, wie sie ein wertvolles Gemälde vor den Gläubigern verstecken kann. Bei Hortensia? 

In dem Wissen, dass ihre Nachbarin Marion einst das Haus entworfen hat in dem Hortensia nun lebt, und in dem diese am Liebsten selbst wohnen möchte, gibt Hortensia umfangreiche Umbauarbeiten in Auftrag um die verhasste Nachbarin zu treffen. Ein angerückter Kran beschädigt versehentlich Marions Haus so stark, dass diese in ein herunter gekommenes Gästehaus umsiedeln muss.

In gehässiger Absicht überredet Hortensia ihre Nachbarin vorübergehend bei ihr einzuziehen, nachdem sie alle Pflegekräfte rausgeekelt und niemanden hat, der für sie sorgt. Aber auch Marion hat üble Hintergedanken, als sie schließlich zustimmt.

Beide versuchen sich gegenseitig das Leben so schwer wie möglich zu machen. Die bissigen Dialoge der alten Damen schwirren wie Pfeilspitzen hin und her. Aber die sich in böser Absicht gegenseitig an den Kopf geworfenen Bosheiten bringen auch Wahrheiten zu Tage, die lange verdrängt wurden. Entgegen dem eigentlichen Ansinnen nähern sich die beiden Frauen an. Erstmals sprechen sie über ihre tief empfundenen Enttäuschungen, über Versäumnisse, Verletzungen und Kränkungen, die sie nie überwunden haben. Nun wird deutlich, beide Frauen sind sich trotz aller Gegensätze ähnlich, sie beide tragen die Narben der gesellschaftlichen Spaltung und der gescheiterten Beziehungen in sich. Entwickelt sich da eine Freundschaft? Ganz sicher nicht im klassischen Sinne, aber für die beiden Frauen so viel Freundschaft, wie ihnen möglich ist.

Auf 263 Seiten erzählt Yewande Omotoso die Lebensgeschichte dieser Frauen, die jede auf ihre Weise in einem Unrechtssystem wirtschaftlich aufgestiegen und persönlich gescheitert sind. Sie entlarvt die Grausamkeit der von Diskriminierung und Rassentrennung geprägten Gesellschaft und schreibt über das Zusammenleben von schwarz und weiß früher und heute in Südafrika. Anschaulich, menschlich, ohne erhobenen Zeigefinger oder Aggression lernen die Leser viele Facetten eines Lebens mit Rassismus und Ungerechtigkeit und dessen Nachwirkungen kennen.Wer auf Friede, Freude, Eierkuchen am Ende hofft, der sieht sich getäuscht. Trotz niedrigschwelliger Annäherung bleiben beide Frauen sich treu, nämlich: bissig!



Montag, 7. Oktober 2019

Die Geschichte der Bienen- von Maja Lunde

Der Klimawandel ist in aller Munde. Dank Greta Thunberg mehr als je zuvor. Endzeitszenarien werden uns täglich in den Medien vor Augen geführt. Den Bildern von verhungernden Eisbären, verbrannten Urang-Utans und anderen leidenden, aussterbenden Kreaturen kann man kaum entkommen. Das Sterben der Bienen ist seit Jahren eine wiederkehrende Nachricht.

Wie aber wirken sich die Katastrophen auf jeden einzelnen aus?  Wie sieht unser tägliches Leben aus, wenn unsere Umwelt sich weiter verändert. Wie werden sich die Gesellschaften, die Arbeitswelt, die Familienverbände ändern?

Mit der Geschichte der Bienen ist auch die Geschichte der Menschheit verbunden. In 3 verschiedenen Zeitepochen schildert die Autorin das Leben mit, von und ohne Bienen. Der Leser bekommt Einblick in die fast industrielle Nutzung der Bienen für die Honigproduktion im 21. Jahrhundert und die Mühen des amerikanischen Imkers George, sich der industriellen von der Agraindustrie dominierten Ausbeutung der Natur zu unterwerfen und seinen Sohn davon zu überzeugen, den Familienbetrieb weiterzuführen.  Das mysteriöse Bienensterben bedroht seine Existenz. Im 19. Jahrhundert scheitert in England William als Forscher und verzweifelt an seinen vergeblichen Versuchen, seinem Mentor zu imponieren und dessen Anerkennung zu gewinnen. Eine großartige Erfindung, mit der Honig schonend und bienenfreundlich gewonnen werden kann, scheint die Wende zu bringen. Kurz vor dem Ende des 21. Jahrhunderts lebt Tao in China in einer Welt ohne Bienen. Mit den Bienen ist der Wohlstand verschwunden und die Nahrungsmittelversorgung auf der Welt kollabiert. Auf der Suche nach ihrem entführten Kind stößt Tao auf ein Wunder.

Als roter Faden ziehen sich durch alle Epochen die Folgen des menschlichen Handelns, das die Kultivierung und Ausbeutung der Natur bis zum Zusammenbruch vorantreibt. Die drei Erzählstränge, die jeweils das Wohl und Wehe der Protagonisten und ihrer Familien zeitgenössisch und auf verschiedenen Kontinenten darstellen, sind nicht nur spannende Menschen- und Zeitbilder sondern machen deutlich, dass es globale Zusammenhänge gibt und der Grundstock für die heutigen Umweltprobleme mit dem voranschreitenden Verlust der Biodiversität, bereits vor Jahrhunderten begonnen hat und noch immer anhält. Die Autorin zeichnet ein Bild unserer verarmten Welt, wie sie sich vielleicht in wenigen Jahrzehnten entwickeln wird.  Im Buch wird ein Bogen gespannt von 1852 über 2007 bis zum Jahr 2098.

Die Geschichten sind mitreißend und gut erzählt, mit den Charakteren kann man mitfühlen und ihre Nöte verstehen. Die Autorin schafft es einen kritischen Blick auf die unterschiedlichen Zeitebenen und das jeweilige menschliche Handeln und seine Folgen ohne erhobenen Zeigefinger zu werfen. Das Buch ist leicht zu lesen und bleibt stets spannend. Dennoch wirft es Fragen über unseren Umgang mit der Natur und die Verantwortung der Generationen füreinander und für die Zukunft auf.

Kurz: Leselust!


Montag, 5. August 2019

Gestorben wird anders- von Ebony Popiolek

Ein ungeliebter, vernachlässigter Ehemann, der eine Therapie abbricht, um nicht nur seine Frau sondern auch sein Leben zu verlassen. Eine attraktive FBI Agentin, die im Jagdfieber einem charmanten Serientäter verfällt. Eine Familie, die sich aus Eifersucht und Rache selbst auslöscht. Ein für seine gelähmte Frau treu sorgender Ehemann, der wegen eines Namens den Boden unter den Füßen verliert. Ein Bruder Kai, der zum Bruder Kain wird. Das Sterben und der Tod am Bett eines über 100-jährigen Naziverbrechers. Eine narzisstische Mutter, die lieber sterben als ihre Schuld anerkennen will.

Unterschiedlicher könnten die Protagonisten und Lebenswelten in den 7 Kurzgeschichten des Buches nicht sein. Und doch gelingt es der Autorin den Lesern die Gefühle und die gewundenen Gedankengänge jeder einzelnen Figur näher zu bringen. Ja, uns deren Denken und Handeln verstehen zu lassen.


Wortgewandt, eindringlich und doch mit erstaunlicher Leichtigkeit lässt uns Ebony Popiolek die Seelenschau der Akteure miterleben.

Ernsthaftigkeit, Tiefe, Lesegenuss und Kurzweil schließen sich hier nicht aus.

(Eigenverlag/ zu erwerben bei ➽ Amazon )

Donnerstag, 13. Juni 2019

Der Goldene Handschuh- Buch von Heinz Strunk/ Film von Fatih Akin

Der Titel des Buches und des gleichnamigen Films klingt nach einem Märchen. Prinz trifft Prinzessin, verliert seinen goldenen Handschuh und seine Angebetete aus den Augen. Der Handschuh bringt sie wieder zusammen. "Und wenn sie nicht gestorben sind ...."

Aber nein! Der "Goldene Handschuh" ist eine der übelsten Spelunken der Hamburger Reeperbahn. Hier treffen sich Kreaturen. die auf der untersten Stufe menschlicher Existenz angekommen sind. Nazi-Verbrecher, die sich noch immer an ihren vergangenen Untaten ergötzen, Gescheiterte, die nichts mehr haben: keine Liebe, keine Familie, keine Freunde, kein Zuhause, kein Mitleid. Alkoholiker, deren Gehirn und Körper von der Droge zerfressen sind. Trieb gesteuerte Sexsüchtige, die sich nur noch durch überbordende Gewalt ihren Kick holen können. Frauen, für die ein Schnaps und Missbrauch und Erniedrigung im Tausch für ein versifftestes Bett und ein Dach über dem Kopf die einzige Zuwendung ist, die sie noch erwarten dürfen.

Vor einigen Wochen habe ich den Film von Fatih Akin "Der Goldene Handschuh" (Link zum Trailer) gesehen und nun die Buchvorlage von Heinz Strunk gelesen. Ich konnte nicht fassen, dass es solch niedere Lebensformen und Existenzen in Deutschland wirklich geben kann. Und doch: den Goldenen Handschuh und den ihn umgebenden Kosmos und seine Bewohner gibt es tatsächlich. Noch heute. Und die Hauptfigur Fritz Honka ist ein leibhaftiger Serienmörder, der in den 70er Jahren in Hamburg sein Unwesen trieb und in eben diesem Goldenen Handschuh seine Opfer fand.

Die unglaubliche Verkommenheit der Szenerie, die explosionsartigen Gewaltausbrüche, die tiefste Stufe menschlicher Erniedrigung und Gleichgültigkeit werden im Film ungeschönt in Wort und Bild gezeigt. Fast sind die Dialoge und die Geräusche schwerer zu ertragen als die grausamen Bilder. Die äußerliche und innerliche Verwahrlosung, die überbordende physische, sprachliche und seelische Gewalt verursachen Ekel und Fassungslosigkeit. Die Szenen gehen an die Grenze des Erträglichen, selbst für Hartgesottene.

Während der Film durch Wort und Bild geradezu körperlich einwirkt, bringt das Buch mit seiner lakonischen, protokollierenden Erzählweise das Denken und die Vorstellungskraft an die Grenze des Fassbaren. Die Szenen der Kneipenbegegnungen, die Leere der Beziehungen zwischen den Akteuren, das völlige Fehlen jeglichen Mitgefühls hinterlassen den Leser einen rat- und hilflos.

Im Film steht der Absturz des Mörders Fritz Honka, seine Getriebenheit, im Vordergrund.

Im Buch führt uns Heinz Strunk vor Augen, dass diese abgrundtiefe Verderbtheit nicht nur in den untersten Schichten zu Hause ist, sondern auch in den besseren Kreisen. Wir lernen hier Männer dreier Generationen einer Reederfamilie kennen, bei denen unter der bürgerlichen Fassade Vereinsamung, Komplexe, Gier, moralische Verwahrlosung, Gewalt- und Machtphantasien ebenso die Abkehr von gesellschaftlichen Normen zur Folge hat. Im Goldenen Handschuh treffen sie aufeinander: die reichen und die armen Seelenkrüppel. Hier findet sich der Nährboden, den man braucht um sich restlos gehen zu lassen, um jede Grenzen zu überschreiten, um hilflose Opfer zu finden.

Fatih Akin und Heinz Strunk haben den Bodensatz dieses Jauchepfuhls unter die Lupe genommen und beleuchtet. Nichts beschönigt, nichts ausgelassen.

Als ich den Film sah bewegte mich vor allem die Frage: wie hat Akin Schauspielerinnen gefunden, die bereit waren eine so hässliche und vor allem eine so frauenfeindliche und erniedrigende Rolle zu übernehmen? Für mich waren diese missbrauchten, entwürdigten Frauengestalten schwerer zu ertragen, als die Mordszenen.

Das Buch mit seiner Intensität hat mich eher fragen lassen: darf man solche Lebensformen als Gesellschaft dulden? Muss man diese kranken, armen Kreaturen nicht vor sich selbst schützen? Darf man eine Subkultur zulassen, in der Gewalt, Körperverletzung und Ehrverletzung und der Verlust der Menschenwürde auf der Tagesordnung stehen?

Diese Fragen sind es meines Erachtens, die dem Film wie dem Buch seine Berechtigung geben. Denn beide klären in einer Weise und Tiefe über diese gesellschaftlichen Randerscheinungen auf, wie ich es noch nie erfahren habe.

Ist dieses also eine Buch-/ Filmempfehlung? JEIN. Zu brutal, zu abartig um empfohlen zu werden. Aber nervenstarke und neugierige Menschen können hier eine Welt kennen lernen, wie sie uns allgemein verborgen und unvorstellbar ist. Immerhin: im Kino hat lediglich ein Pärchen nach den ersten Szenen den Kinosaal verlassen. Alle anderen blieben wie angewurzelt auf ihren Sitzen.