Der Titel des Buches und des gleichnamigen Films klingt nach einem Märchen. Prinz trifft Prinzessin, verliert seinen goldenen Handschuh und seine Angebetete aus den Augen. Der Handschuh bringt sie wieder zusammen. "Und wenn sie nicht gestorben sind ...."
Aber nein! Der "Goldene Handschuh" ist eine der übelsten Spelunken der Hamburger Reeperbahn. Hier treffen sich Kreaturen. die auf der untersten Stufe menschlicher Existenz angekommen sind. Nazi-Verbrecher, die sich noch immer an ihren vergangenen Untaten ergötzen, Gescheiterte, die nichts mehr haben: keine Liebe, keine Familie, keine Freunde, kein Zuhause, kein Mitleid. Alkoholiker, deren Gehirn und Körper von der Droge zerfressen sind. Trieb gesteuerte Sexsüchtige, die sich nur noch durch überbordende Gewalt ihren Kick holen können. Frauen, für die ein Schnaps und Missbrauch und Erniedrigung im Tausch für ein versifftestes Bett und ein Dach über dem Kopf die einzige Zuwendung ist, die sie noch erwarten dürfen.
Vor einigen Wochen habe ich den Film von Fatih Akin "Der Goldene Handschuh" (Link zum Trailer) gesehen und nun die Buchvorlage von Heinz Strunk gelesen. Ich konnte nicht fassen, dass es solch niedere Lebensformen und Existenzen in Deutschland wirklich geben kann. Und doch: den Goldenen Handschuh und den ihn umgebenden Kosmos und seine Bewohner gibt es tatsächlich. Noch heute. Und die Hauptfigur Fritz Honka ist ein leibhaftiger Serienmörder, der in den 70er Jahren in Hamburg sein Unwesen trieb und in eben diesem Goldenen Handschuh seine Opfer fand.
Die unglaubliche Verkommenheit der Szenerie, die explosionsartigen Gewaltausbrüche, die tiefste Stufe menschlicher Erniedrigung und Gleichgültigkeit werden im Film ungeschönt in Wort und Bild gezeigt. Fast sind die Dialoge und die Geräusche schwerer zu ertragen als die grausamen Bilder. Die äußerliche und innerliche Verwahrlosung, die überbordende physische, sprachliche und seelische Gewalt verursachen Ekel und Fassungslosigkeit. Die Szenen gehen an die Grenze des Erträglichen, selbst für Hartgesottene.
Während der Film durch Wort und Bild geradezu körperlich einwirkt, bringt das Buch mit seiner lakonischen, protokollierenden Erzählweise das Denken und die Vorstellungskraft an die Grenze des Fassbaren. Die Szenen der Kneipenbegegnungen, die Leere der Beziehungen zwischen den Akteuren, das völlige Fehlen jeglichen Mitgefühls hinterlassen den Leser einen rat- und hilflos.
Im Film steht der Absturz des Mörders Fritz Honka, seine Getriebenheit, im Vordergrund.
Im Buch führt uns Heinz Strunk vor Augen, dass diese abgrundtiefe Verderbtheit nicht nur in den untersten Schichten zu Hause ist, sondern auch in den besseren Kreisen. Wir lernen hier Männer dreier Generationen einer Reederfamilie kennen, bei denen unter der bürgerlichen Fassade Vereinsamung, Komplexe, Gier, moralische Verwahrlosung, Gewalt- und Machtphantasien ebenso die Abkehr von gesellschaftlichen Normen zur Folge hat. Im Goldenen Handschuh treffen sie aufeinander: die reichen und die armen Seelenkrüppel. Hier findet sich der Nährboden, den man braucht um sich restlos gehen zu lassen, um jede Grenzen zu überschreiten, um hilflose Opfer zu finden.
Fatih Akin und Heinz Strunk haben den Bodensatz dieses Jauchepfuhls unter die Lupe genommen und beleuchtet. Nichts beschönigt, nichts ausgelassen.
Als ich den Film sah bewegte mich vor allem die Frage: wie hat Akin Schauspielerinnen gefunden, die bereit waren eine so hässliche und vor allem eine so frauenfeindliche und erniedrigende Rolle zu übernehmen? Für mich waren diese missbrauchten, entwürdigten Frauengestalten schwerer zu ertragen, als die Mordszenen.
Das Buch mit seiner Intensität hat mich eher fragen lassen: darf man solche Lebensformen als Gesellschaft dulden? Muss man diese kranken, armen Kreaturen nicht vor sich selbst schützen? Darf man eine Subkultur zulassen, in der Gewalt, Körperverletzung und Ehrverletzung und der Verlust der Menschenwürde auf der Tagesordnung stehen?
Diese Fragen sind es meines Erachtens, die dem Film wie dem Buch seine Berechtigung geben. Denn beide klären in einer Weise und Tiefe über diese gesellschaftlichen Randerscheinungen auf, wie ich es noch nie erfahren habe.
Ist dieses also eine Buch-/ Filmempfehlung? JEIN. Zu brutal, zu abartig um empfohlen zu werden. Aber nervenstarke und neugierige Menschen können hier eine Welt kennen lernen, wie sie uns allgemein verborgen und unvorstellbar ist. Immerhin: im Kino hat lediglich ein Pärchen nach den ersten Szenen den Kinosaal verlassen. Alle anderen blieben wie angewurzelt auf ihren Sitzen.