Freitag, 5. April 2019

Wo wir zu Hause sind- Die Geschichte meiner verschwunden Familie


Maxim Leo, ein in  Ostberlin geborener und aufgewachsener Journalist, begibt sich auf die Suche nach der Vergangenheit seiner jüdischen Familie, die dem Nationalsozialismus geschuldet, in alle Winde verstreut ist. Ganz unterschiedlich verliefen die Bemühungen sich im Ausland in Sicherheit zu bringen und jeder hatte seine eigenen Strategien und Lebensentwürfe. Ein Onkel kommt als Kind nach England, eine Tante lebt in Israel, eine andere in Österreich und eine nächste in den USA. Ihre Lebensgeschichten erforscht Leo in Interviews mit den noch lebenden Verwandten und deren Nachkommen. Er begibt sich auf die Reise zu seinen Verwandten in der Ferne. Vor allem die Sehnsucht nach einer großen Familie ist seine Triebfeder.
Er stellt fest, dass die Generation der direkt Verfolgten sich verschlossen hat, sich gegen die alte Heimat gewendet, sich in der neuen Heimat etabliert und Mauern um die Erlebnisse der Vergangenheit errichtet hat. Aber die Nachfolgegenerationen spüren die Verbindung zur alten Heimat und zur Familie, die sie nie kennengelernt haben. Sie sind aufgeschlossen, unvoreingenommen und neugierig. Ihre Identität finden sie sowohl in der Vergangenheit als auch in ihrer Gegenwart. Selbst die Alten beginnen sich in diesem Wiederfindungsprozess zu öffnen und ihre Situation zu reflektieren. Es kommt zu Begegnungen und Erkenntnissen, die nicht nur zeigen, wie das Leben fern der ursprünglichen Heimat sich auf die kulturelle und persönliche Entwicklung auswirkt sondern auch, dass eine familiäre Bindung, eine unabdingbare, innere Nähe zu den Angehörigen der Familie in jedem steckt.
Dieses Buch hat zu mir in einer Zeit gefunden, in der ich mich intensiv auf die Suche nach meinem jüdischen Großvater gemacht habe und jetzt weiß, dass er mit seiner Familie nach Argentinien ausgewandert ist. Viele Fragen, die sich mir stellen, wie fühlt man sich, wenn man gezwungen wird die Heimat zu verlassen? Kann man im neuen Heimatland wirklich ankommen, kann es ein Ersatz für die Heimat sein? Wie geht man mit Demütigung und Erniedrigung um? Kann man der alten Heimat verzeihen, was sie einem angetan hat? Wie „deutsch“ bleibt man auch unbewusst in einem neuen Leben? Wie wirken die Verwerfungen im Lebenslauf auf die nachfolgenden Generationen? Für all diese Fragen bieten die Lebensgeschichten der Familie Leo mögliche Antworten. Wir erfahren etwas vom „american dream“, dem „very british way of life“, über das Leben im Kibbuz bis hin zur Boheme der 30er Jahre in Paris. Das Buch ist nicht nur ein Familienroman, es ist auch ein Psychogramm von Entwurzelung und Neuanfang, von Demütigung und Verzeihung, vom Hinfallen und Aufstehen. Und es ist politisch. Denn in allen Ländern, in die die Angehörigen geflüchtet sind, macht sich der Rechtsruck bemerkbar, blüht der Nationalismus auf. Ob Brexit, Nethanjahus Siedlungspolitik, Trumps Abschottungspolitik oder die rechts-konservative Regierung in Österreich. Über 70 Jahre nach Kriegsende, nach Jahren der Entspannung und des Aufeinanderzugehens, greifen wieder Unversöhnlichkeit, Kompromisslosigkeit, Ausgrenzung und Abschottung um sich.
Das Interesse an Familie, das Miteinander und die Verbundenheit über Grenzen und Ozeane hinweg und das Verständnis dafür, dass wir nicht nur eine Heimat haben, kann vielleicht im Kleinen dazu beitragen, dass wir uns an Vielfalt freuen und neugierig bleiben.
Das Buch ist letztlich auch ein Plädoyer für Familienforschung. Nicht erst dann Fragen zu stellen, wenn nicht mehr geantwortet werden kann. Ich wünschte, dieses Bewusstsein wäre eher bei mir angekommen. Dann müsste ich heute nicht so mühsam Puzzleteilchen suchen und damit leben, dass einige Flächen leer bleiben werden .